Wolfgang Lesch – Offener Brief an Guido Westerwelle

Sehr geehrter Herr Dr. Westerwelle,

vor ca. einem Jahr hat sich Vorfeldorganisation Liberale Arbeitnehm er Sachsen e.V. etabliert. Unsere Inspiration war es, die Partei breiter aufzustellen und damit ein viel stärkeres Wählerpotenzial an unsere Partei zu binden.
Zuerst die positive Nachricht: In den alten, insbesondere aber in den neuen Bundesländern ist diese Reserve ausgeprägt vorhanden. Das kann ich Ihnen als Vertreter dieser Klientel versichern. Die schlechte Nachricht: Wir haben dies in unserem politischen Diskussionen und Handeln leider immer noch nicht erkannt. Das könnte bei den demnächst anstehenden Wahlen durchaus dramatische Folgen haben. Bei Wahlergebnissen zwischen 6% und 9% werden wir in Zukunft, selbst bei Regierungsbeteiligung, vermutlich unsere politischen Inhalte nicht umsetzen können (Mehrheitsverhältnisse). Ausnahmsweise möchte ich den Medien danken, dass einige Positionen (Zeitarbeit, Mindestlohn) unserer Partei nicht öffentlichkeitswirksam wurden. Deshalb drängt sich hier der Verdacht auf, dass die Probleme der Menschen in den ostdeutschen Ländern immer noch nicht bekannt und/oder ausreichend gewürdigt werden. Wenn wir uns die Mitgliederentwicklung in den neuen Bundesländern betrachten, wird das sehr deutlich.

Ich möchte versuchen, Ihnen unsere Positionen im Telegrammstil näher zu bringen:

Das Land Sachsen hat mit 16 % Wirtschaftswachstum, das höchste Wachstum aller Bundesländer. Bei unseren Menschen kommt davon aber nichts an. Nicht nur die hohe Steuerlast ist hierfür verantwortlich – nein insbesondere auch die vielen Unternehmen, die auf der Suche nach Billigarbeiter sind (nicht nur auf Facharbeiterebene, sondern auch auf akademischer Ebene). Ein Stundenlohn von fünf bis neun Euro ist hier die Regel.

Die Arbeitslosenzahl wurde offiziell um ca. 300 000 gesenkt, aber nur weil die Arbeitslosenstatistik geschönt wurde, u.a. infolge der Nichtberücksichtigung von Ein-Euro Jobern und Mini-Jober. Dafür ist die Zahl derer, die trotz Fulltime-Job, Arbeitslosengeld II- Leistungen erhalten müssen, seit 2005 um 100 % , auf 110 000 Leistungsberechtigte gestiegen.

Damit gibt man diesen Menschen nicht die Möglichkeit zur ‚Selbstbestimmung—, sondern es wird deren Notsituation ausgenutzt.

Wenn Sie von Tarifautonomie sprechen, wissen Sie wahrscheinlich nicht, dass in Sachsen (und sicher in den meisten neuen Bundesländern) ca. 69 % aller Menschen in kleinen und mittleren Betrieben arbeiten, die keine Lobby (weder Gewerkschaft, Betriebsrat oder einen sogenannten Sprecher) und seit Jahren keine Lohnerhöhung gesehen haben; trotz konjunktureller Erholung! Ihr Kollege Joachim Günther kann Ihnen sicher im Bedarfsfall mit Beispielen aus dem Vogtland aushelfen. Aber genau diese Firmen klagen über Facharbeitermangel. Sie investieren weder in die Ausbildung junger Menschen noch in die Qualifizierung ihrer Mitarbeiter. Sie fordern eine neue Freizügigkeitspolitik – Billigarbeiter aus Billiglohnländern(?)!
Schockierend war für uns die FDP-Diskussionsrunde zum Thema Zeitarbeit. Sie haben nicht einen Betroffenen zum Thema eingeladen, aber die, die betroffen machen. Zeitarbeit wurde mal kreiert, um konjunkturelle Dellen abzufangen. In Ostdeutschland werden von großen deutschen Unternehmen überdurchschnittlich viele Zeitarbeiter eingesetzt (Porsche in Leipzig – ca. 30 % aller Mitarbeiter sind seit Jahren Zeitarbeiter –>  Durchschnitt in den alten Bundesländern ca. 10 %). Aber auch mittlere Unternehmen haben den preisgünstigen Markt erkannt. Kostenminimierung von 25 % – 30% –> entsprechende Lohneinbußen für die Mitarbeiter.

Wenn die Menschen 18 Jahre nach der Wiedervereinigung (fast 30 % )‚ Links oderRechts— wählen, dann sind das nicht die Ewiggestrigen – nein – dann sind das Menschen, die unsere Partei nicht mehr im Focus hat. Diese Mitbürger haben oftmals Ihre Hoffnungen auch auf uns Liberale (Wahlen in Sachsen-Anhalt, Mecklenburg Vorpommern und Sachsen) gesetzt, aber sie wurden und werden enttäuscht.

Die liberale Bundestagsfraktion hat sich stark gemacht, den Mindestlohn als‚ Teufelzeug zu verhindern, aber zugelassen, dass 18 Jahre nach der Wiedervereinigung wieder Ost- und Westlöhne eingeführt werden. Obwohl Ihnen allen bekannt sein dürfte, dass die Lebenshaltungskosten bereits längst Westniveau erreicht haben oder zum Teil darüber liegen.

Zum Thema Mindestlohn möchte ich Ihnen gern ein Zitat des ehemaligen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, der bestimmt kein Postkommunist war, zur Verfügung stellen:

„Man muss nicht unbedingt Kommunist, Linker oder fortschrittlicher Gewerkschafter sein, um einen Mindestlohn zu fordern.“ So äußerte sich Präsident Franklin D. Roosevelt bei der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 1938: Unternehmen, deren Existenz lediglich davon abhängt, ihren Beschäftigten weniger als einen zum Leben ausreichenden Lohn zu zahlen, sollen in diesem Land kein Recht m ehr haben, weiter ihre Geschäfte zu betreiben. Mit einem zum Leben ausreichenden Lohn meine ich m ehr als das bloße Existenzm inim um – ich meine Löhne, die ein anständiges Leben ermöglichen.“

In dem Kreisverband, in dem ich noch Verantwortung trage, werden von 131 Mitgliedern, ca. 10 % der Parteifreunde durch (Beitrags-)Patenschaften subventioniert. Denn sie sind einfach nicht in der Lage, von ihrem Einkommen den Parteibeitrag zu leisten. Weit über die Hälfte der hier geborenen Parteimitglieder sind nicht Selbständig (darin unterscheiden sich die Kreisverbände in den neuen und alten Bundesländern)!
Eigentlich ist hier ein riesen Potenzial an liberal denkenden Menschen vorhanden. Heben wir den „Schatz“, wie in anderen Ländern auf dieser Welt. Wir, die Liberalen Arbeitnehmer Sachsen e.V. treten für den Erhalt kleiner und mittelständischer Strukturen ein, dazu muss man aber‚ „Kaufkraftverweigerer“ verhindern. Denn nur ein erträgliches Einkommen, lässt den Arbeitnehmer zum Kunden beim Kaufmann und zum Auftraggeber für den Handwerker werden. Eine Lohnsubventionierung (Bürgergeld) sollte nur dort zur Anwendung kommen, wo ein Niedriglohn unvermeidbar ist. Wenn Liberale Gewinnmaximierung, durch staatliche Subventionierung honorieren, so stellt das unsere freiheitlichen Grundgedanken in Frage. Nur eine Steuersenkung würde allein gar nichts nutzen; im Gegenteil: Es würden die am meisten partizipieren, die schon jetzt in höheren Einkommenssphären leben. Da das deutsche Steuerrecht eine progressive Versteuerung vorsieht, würde die besser gestellte Klientel Steuerermäßigungen besser nutzen können als die eigentlichen Adressaten. Das heißt, die Schere zwischen Arm und Reich würde noch mehr auseinanderklaffen.

Vielleicht sind andere politischen Parteien nicht nach „Links“ gerückt, sondern unsere Partei einfach stehen geblieben und nicht auf der Höhe des aktuellen Geschehens. Zum Dreikönigstreffen 2008 haben Sie gesagt: „Wir Liberale schützen die Schwachen vor den Starken.“ Also lassen Sie uns nicht nur die Anwälte der vergessenen Mitte sein, sondern auch die Anwälte der Schwachen! Wir wollen die Anwälte aller Leistungswilligen sein! Unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Einkommen oder sozialen Lage!

Sehr geehrter Herr Westerwelle, geben Sie bitte unseren Bürgern (auch in den Neuen Ländern), die Chance mit Ihnen und unserer Partei Politik gestalten zu können. Bitte nehmen Sie Einfluss, dass die Menschen in West und Ost eine gleiche wirtschaftliche und finanzielle Entwicklung nehmen können.
Sollte Ihnen die eine oder andere Passage etwas übertrieben dargestellt sein, dann halten Sie´s wie unser Generalsekretär, man muss als „Mann“ aus der Basis, die Dinge manchmal etwas zuspitzen.

Mit freundlichen Grüßen

Wolfgang Lesch
Vorsitzender

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